29. 09. 2020

Punktwolken und Digitale Zwillinge – Die Kunstkammer im 3D-Scanner

Barock trifft auf Hightech: Auf Schloss Friedenstein sind Voxel, Punktwolken und Polygonnetze eingezogen. Ein Wackelkopf aus rötlichem Steinzeug, der normalerweise hoch über den Köpfen der Besucher im Kunstkammerschrank thront, steht im Rampenlicht auf einer drehbaren Glasplatte. Sechs technische Kameras und drei hochauflösende Texturkameras sowie drei kleine Beamer sind auf ihn gerichtet. Sie werden ihn in den nächsten 20 Minuten von sämtlichen Winkeln aus ins Visier nehmen und mithilfe von Hightech-Software einen digitalen, dreidimensionalen Zwilling von ihm schaffen. Keine Gewandfalte, kein tönernes Fingerchen soll ihnen verborgen bleiben.

Die Figur ist das erste von etwa 1,15 Millionen Objekten der Friedensteinschen Sammlung, die in den kommenden Jahren digitalisiert werden soll: „Endlich ist es soweit! Das größte museale Digitalisierungsprojekt, das es je in Deutschland gegeben hat, nimmt seine Arbeit auf. Gotha ist ein einzigartiger Museumsstandort! An der Hebung des weltweit einmaligen Schatzes müssen wir intensiv in den nächsten Jahren arbeiten. Unser Ziel ist es, diese wunderbaren Dinge der Öffentlichkeit und der internationalen Forschung zur Verfügung zu stellen“, freut sich Dr. Tobias Pfeifer-Helke, Direktor der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, über den ersten sichtbaren Schritt von „Gotha transdigital 2027“.

Das Projekt wird aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und der Thüringer Staatskanzlei gefördert. Insgesamt unterstützen Bund und Land das bis 2027 angesetzte Vorhaben mit einem zweistelligen Millionenbetrag. „Gotha transdigital 2027“ wird in enger technischer Kooperation mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena / Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) verwirklicht. Im Rahmen des EFRE (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung)-geförderten Innovationsprojektes „cultur3D“ steht das digitale Kultur- und Sammlungsmanagement im Fokus. Projektleiter Dr. Andreas Christoph freut sich über den erneuten Einsatz der Technologie in Thüringen: „3D-Scans musealer Objekte ermöglichen uns ganz neue Perspektiven auf deren Dokumentation und Erschließung. Die Visualisierung des Kunstkammerbestandes in Gotha schafft völlig neue Möglichkeiten der Teilhabe und Vermittlung. Die Bandbreite der dabei eingesetzten Digitalisierungsverfahren birgt noch ungeahnte Potentiale.“

Leise verrichten die Kameras ihren Dienst, während sich die tönerne Figur auf der Glasplatte dreht. Der Raum ist von einem stetigen Klicken und Klacken der auslösenden Kameras erfüllt. Das Licht des Scheinwerfers flutet den Raum für wenige Sekunden, bevor es wieder dunkel wird. Ralf Meyer sitzt vor zwei Hochleistungsrechnern, welche in kürzester Zeit Punktwolken errechnen, sie mit Polygonnetzen überziehen und diese dann mit Texturen verbinden – ein Arbeitsspeicher von 256 Gigabyte macht es möglich. Meyer ist der Leiter des Bereichs „3D-Visualisierung / Fotografie CGI (Computer Generated Imagery)“ bei Fröbus, einem Kölner Dienstleister, der sich unter anderem darauf spezialisiert hat, kulturelles Erbe zu digitalisieren.

Der Rechner ist mittlerweile bei Schritt 19 von 21 angekommen: „Compute Reflectance Weights 51 %“ teilt das Programm mit, während es die nackte Figur mit einer Textur versieht. „Ja, es funktioniert“, freut sich Meyer, „wir können ihm unter den Rock schauen. Der Scanner hat auch die einzelnen Finger, Falten und Knöpfe erkannt.“ Der Computer rechnet weiter, bis er dann auf dem Bildschirm erscheint: der über 300 Jahre jüngere digitale Zwilling des Wackelkopfs aus Steinzeug.

Gotha transdigital 2027